Frauen und Vorsorge

Wissen ist der erste Schritt

Erscheinungsort: Handelszeitung
Erscheinungsdatum: 19.11.2020

Wieso haben Sie bei der Graubündner Kantonalbank ein Projektteam zum Thema «Frauen und Vorsorge» ins Leben gerufen?

Annina Riedi: Als Beraterin für institutionelle Kunden habe ich tiefen Einblick in die Herausforderungen der staatlichen und beruflichen Vorsorge erhalten – und in den letzten drei Jahren habe ich ergänzend mein Know-how im Thema private Altersvorsorge vertieft. Dadurch wurde mir die Vorsorgeproblematik, vor allem für Frauen, noch bewusster. Hinzu kam, dass durch viele Gespräche im privaten Umfeld die Dringlichkeit der Vorsorgethematik für Frauen immer deutlicher wurde. Nur wenige Frauen in meinem Alter – aber auch ältere – setzen sich mit dem Thema auseinander und sind sich bewusst, dass es um die Sicherung ihres Lebensstandards im Alter geht. Da habe ich mir zum Ziel gesetzt, dafür zu sorgen, dass jede Frau in meinem Umfeld – sowie auch unsere Kundinnen – über ihre Vorsorgesituation Bescheid weiss und dass sie bedarfsgerecht optimieren kann.

Wie erklären Sie sich den Gender Pension Gap von 37 Prozent in der Schweiz?

Immer noch sind oft Frauen in einer Partnerschaft für die Kinderbetreuung und den Haushalt hauptverantwortlich und haben deshalb keinen Anschluss an eine Pensionskasse. Der grösste Gap ergibt sich bei verheirateten Frauen mit Kindern im klassischen Familienmodell: mit dem Mann als Alleinverdiener und der Frau, die zu Hause bleibt, weil die zweite Säule auf dem Prinzip des Individualsparens des Verdienenden basiert. In der Pensionskasse häuft der Erwerbstätige – meistens also der Mann – Vorsorgevermögen an. Dieses wird während der Ehe nicht aufgeteilt, es findet also kein Vorsorgeausgleich statt. Im bestehenden System wäre es deshalb auch für Frauen das Beste, wenn sie möglichst keine Erwerbsunterbrüche und ein möglichst hohes Arbeitspensum hätten. Inwiefern trägt die Teilzeitbeschäftigung von Frauen zu dem Rentengefälle bei? Jede Unterbrechung vom Idealfall einer lebenslangen 100-prozentigen Erwerbstätigkeit führt am Ende zu Renteneinbussen. Wer lange mit reduziertem Pensum arbeitet, spart weniger Vorsorgevermögen in der zweiten Säule an. Zudem sind berufliche Aufstiegschancen im Teilzeitpensum geringer und Weiterbildungsmöglichkeiten schwierig, was Lohnerhöhungen auch für die Zukunft erschwert. Trotzdem arbeiten viele Frauen in Teilzeit, da sie die Kinder zu Hause betreuen wollen oder müssen, weil eine Fremdbetreuung aus finanziellen Gründen oder wegen fehlender Krippenplätze nicht möglich ist. Darüber hinaus ist die Fremdbetreuung von Kindern auch gesellschaftlich noch nicht vollumfänglich akzeptiert. Hier benötigt es noch mehr Akzeptanz in der Gesellschaft.

Inwiefern trägt die Teilzeitbeschäftigung von Frauen zu dem Rentengefälle bei?

Jede Unterbrechung vom Idealfall einer lebenslangen 100-prozentigen Erwerbstätigkeit führt am Ende zu Renteneinbussen. Wer lange mit reduziertem Pensum arbeitet, spart weniger Vorsorgevermögen in der zweiten Säule an. Zudem sind berufliche Aufstiegschancen im Teilzeitpensum geringer und Weiterbildungsmöglichkeiten schwierig, was Lohnerhöhungen auch für die Zukunft erschwert. Trotzdem arbeiten viele Frauen in Teilzeit, da sie die Kinder zu Hause betreuen wollen oder müssen, weil eine Fremdbetreuung aus finanziellen Gründen oder wegen fehlender Krippenplätze nicht möglich ist. Darüber hinaus ist die Fremdbetreuung von Kindern auch gesellschaftlich noch nicht vollumfänglich akzeptiert. Hier benötigt es noch mehr Akzeptanz in der Gesellschaft.

 

«Alles, was frau tun kann, um die Vorsorge zu stärken, muss sie nutzen.»

 

Wie ist die Situation in der ersten Säule?

Bei der AHV gibt es ein Splitting zwischen Mann und Frau, das ist ein anderes System. Gemäss einer Studie des Bundesamts für Sozialversicherungen aus dem Jahr 2016 ist das Rentengefälle in der ersten Säule kaum vorhanden – die AHV-Renten wiesen nur eine Geschlechterlücke von knapp 3 Prozent aus. Frauen und Männer erhalten durchschnittlich ähnlich hohe AHV-Renten. Dies hängt einerseits mit dem Splitting zusammen: Zur Berechnung der Rente werden die Einkommen beider Ehepartner zusammengezählt und je zur Hälfte gutgeschrieben. Zudem werden Erziehungsgutschriften – fiktive Einkommen während der Jahre, in denen die Kinder auf Betreuung angewiesen sind – gewährt. Die Unterschiede im Erwerbsverhalten von Frauen und Männern werden also in der ersten Säule mehrheitlich ausgeglichen.

Welche Rahmenbedingungen im Vorsorgesystem der Schweiz müssten der heutigen Wirklichkeit betreffend Scheidungsraten, Kindererziehung, Teilzeit, Erwerbstätigkeit von Frauen und so weiter angepasst werden?

Der heutige Gender Pension Gap spiegelt die Lebenssituationen von Frauen und Männern, die vor rund fünfzig Jahren in das Erwerbsleben eingetreten sind. Die traditionellen Rollenbilder waren damals stärker verbreitet und Frauen haben weniger am Erwerbsleben teilgenommen als heute. Die traditionelle Rollenverteilung wirkt sich besonders auf das heute bestehende Rentengefälle in der zweiten Säule aus. Mit dem stetig voranschreitenden Wandel der Rollenbilder wird sich die Situation der künftigen Rentnerinnen verändern und verbessern, aber die gesetzlichen Rahmenbedingungen können dem schnellen gesellschaftlichen Wandel nicht immer sofort nachkommen. Deshalb ist es wichtig, die Arbeitgeber und Arbeitnehmenden aufzuklären, damit sie die Verbesserungen im Rahmen der jetzt schon vorhandenen gesetzlichen Möglichkeiten ausschöpfen.

Die da wären?

Das System lässt Möglichkeiten zu, diese Problematiken abzuschwächen. Es ist beispielsweise möglich, für Teilzeitbeschäftigte die Höhe des Koordinationsabzugs ans Pensum zu koppeln. Wenn der Arbeitgeber sich dem bewusst ist, kann er das so einführen. Wenn ein Arbeitgeber an guten Teilzeitarbeitnehmerinnen interessiert ist, macht er das auch und schafft zudem insgesamt familienfreundliche Arbeitsbedingungen.

Wird die Motion Ettlin eine deutliche Verbesserung der Vorsorgesituation von Frauen bringen?

In bestimmten Lebensphasen ist es für viele Menschen nicht möglich, den Maximalbetrag von 6828 Franken pro Jahr für die dritte Säule aufzubringen. Für Frauen ist dies sehr oft ein Problem, wenn sie Teilzeit arbeiten, und aufgrund des tieferen oder fehlenden AHV-Einkommens fehlt ihnen die Möglichkeit zur Einzahlung in die dritte Säule. Die Motion bietet für solche Fälle die Möglichkeit, das Vorsorgekapital zu stärken, was ich begrüsse. Alles, was frau tun kann, um die Vorsorge zu stärken, muss sie nutzen. Es ist wichtig, dass auch für Frauen ohne Pensionskassenanschluss die Möglichkeit besteht, ihre Vorsorge über die dritte Säule aufzubauen oder zu stärken.

Wie gehen Sie da vor in Ihrem Projekt «Frauen und Vorsorge»?

Wir setzen auf eine Kombination von allgemeiner Aufklärung mittels Vorsorge-Workshops für Frauen und individueller, persönlicher Beratung. Wir möchten mit allen unseren Kundinnen einfach und transparent Wissen aufbauen. Denn Wissen ist der erste Schritt zur Erreichung finanzieller Freiheit.

Wo erkennen Sie die grössten Wissenslücken?

Viele kennen die Funktionsweise des Schweizer Vorsorgesystems nicht oder nicht genug. Es bestehen vielfach Wissenslücken bezüglich der persönlichen Vorsorgesituation. Wir versuchen, die Frauen so früh wie möglich für die Thematik zu sensibilisieren. Auch beim Thema Vermögensanlage und deren Effekt auf das Vorsorgevermögen besteht Aufklärungsbedarf. Frauen verbinden Anlegen und Aktien oft mit Risiken und Verlust. Es ist unsere Aufgabe, diese Angst zu adressieren und sie den Risiken der Bargeldhaltung gegenüberzustellen.

 

Annina Riedi
Annina Riedi ist bei der Graubündner Kantonalbank (GKB) Leiterin Sales Asset Management sowie Mitglied des Kaders.

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